Ein österreichischer Präsidentschaftskandidat würde es wagen, der stimmenstärksten Partei einer Nationalratswahl die Regierungsangelobung zu verweigern, wenn sie in ihrem Programm europafeindliche Politik vertritt. Aufgrund dieses angekündigten Wagnisses wurde diesem Präsidentschaftskandidaten mangelndes demokratisches Verständnis vorgeworfen. Wie unhaltbar dieser Vorwurf ist und wie sehr gerade diese Ankündigung den Wert des Bundespräsidentenamts hervor streicht, wird im Folgenden mit einem ganz einfachen und doch wissenschaftlichen Ansatz dargelegt.
Zur Sache
Auch die ökonomische Disziplin beschäftigt sich mit den Herausforderungen von Wahlen. Die wohl zentrale Fragestellung hierbei: in wie weit begünstigt das konkrete Wahlverfahren und der darum bestehende demokratische Rahmen ein Ergebnis, welches den tatsächlichen Präferenzen der Wähler und Wählerinnen entspricht (vgl. Hindriks/Myles 2006, S. 301ff, Moulin 2004, S. 107ff). Nun sei folgendes Beispiel für zukünftige Nationalratswahlen angenommen:
- In Österreich gibt es fünf Parteien (A,B,C,D,E).
- Während eine Partei (A) eine extreme Position am Rand des politischen Spektrums vertritt, verorten sich die vier anderen Parteien (B,C,D,E) rund um die politische Mitte.
- Die Bevölkerung lässt sich hinsichtlich ihrer Präferenzen in fünf unterschiedlich große (%) Gruppen teilen (a,b,c,d,e).
- Die Präferenzen jeder einzelnen Bevölkerungsgruppe lassen sich durch eine entsprechende Reihung der fünf Parteien darstellen (siehe Tab. 1).
Wenn sich nun alle Wähler und Wählerinnen am Stimmzettel der Nationalratswahl für die von ihnen am meisten präferierte Partei entscheiden, gibt es im dargestellten Beispiel eine klar stimmenstärkste Partei (A). Zugleich ist diese Partei für die Mehrheit der Bevölkerung (b,c,d,e) die schlechtestmögliche Wahl. Gäbe es nun kein Bundespräsidentenamt und würde automatisch die stimmenstärkste Partei den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen, wäre dies klar gegen die eigentliche Präferenz der Bevölkerung. Jedenfalls wäre ein gut informierter Bundespräsident also auch gut beraten, die stimmenstärkste Partei nicht anzugeloben.
Nach bestem Wissen und Gewissen
Da der anfangs erwähnte Bundespräsidentschaftskandidat mehrmals festgestellt hat, dass er die europafeindliche Politik einer Partei für die schlechtestmögliche Wahl halte und die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung abseits des politischen Extrems vermute, gilt: gerade die Angelobung dieser Partei wäre wider seines besseren demokratischen Wissens.
So einfach und plakativ das Beispiel gehalten ist, behält die Schlussfolgerung auch darüber hinaus ihre Gültigkeit, solange nur die Mehrheit der Bevölkerung mehrheitsfähige Koalitionsvarianten ohne die stimmenstärkste Partei präferiert. Dies darf als gegeben angenommen werden, wenn besagter Präsidentschaftskandidat mehrheitlich ins Amt gewählt wird. Somit ist seine Ankündigung konsistent mit wahrhaft demokratischem Verständnis.
Referenzen
Hindriks, Jean / Myles, Gareth (2006): Intermediate Public Economics. Cambridge: MIT Press.
Moulin, Herve (2004): Fair Division and Collective Welfare. Cambridge: MIT Press.